Hermann Knoblauch
Die Zeiten ändern sich mit jedem Jahrhundert, mit jeder neuen Generation. Was sich nicht ändert, ist die Quelle allen Wissens, aus der seit Menschengedenken die großen Kulturen, Wissenschaften, Religionen und Philosophien hervorgingen. Die kulturell-historische Entwicklung der Menschheit zeigt jedoch, wie sich die verschiedenen Zweige der Wissenschaft mehr und mehr voneinander trennten und somit auch die Einheit einer universell anwendbaren Religion-Philosophie-Wissenschaft verloren ging. Die Religionen trennten sich von den Philosophien, und ebenso trennten sich die Wissenschaften von ihnen. Umso notwendiger wurde angesichts der fortschreitenden Spezialisierung die Wiedervereinigung von Religion, Wissenschaft und Philosophie, da wir nur in der Synthese dieser drei großen Denkmöglichkeiten der Kausalität unseres Daseins näher kommen können. So war es die damalige Zeit selbst, die ein Werk wie Isis Entschleiert herausforderte.
Schon bald nachdem Blavatsky am 17. November 1875 zusammen mit William Quan Judge, Henry Steel Olcott und Anderen die Theosophische Gesellschaft gegründet hatte, begann sie mit der Niederschrift ihres ersten Standardwerkes Isis Entschleiert. Bereits nach knapp zwei Jahren konnte dieses bedeutende Werk am 29. September 1877 in New York einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Schon zehn Tage später war die Erstauflage vergriffen. Zu jener Zeit waren die Fronten zwischen den Vertretern der Naturwissenschaften und denen der Theologie hoffnungslos festgefahren. Mit Isis Entschleiert bot sich ein Ausweg aus dieser Situation und zugleich die Möglichkeit, Wissenschaft, Religion und Philosophie wieder miteinander zu versöhnen. Wenn wir heute zurückblicken, so zeigt sich, dass in weiten Bereichen bereits eine interdisziplinäre Annäherung erreicht werden konnte.
Am 26. September 1892 veröffentlichte The Sun, New York, einen Artikel von William Quan Judge über die Entstehung von Isis Entschleiert, in dem es heißt: „Isis Entschleiert fand weitverbreitete Beachtung. Alle New Yorker Zeitungen besprachen das Werk und bescheinigten ihm, dass es eine ungeheure Forschungsarbeit an den Tag lege. Das Seltsame daran ist, dass die Autorin, wie ich und viele Andere als Augenzeugen bei der Herstellung des Buches bezeugen können, keine Bibliothek zur Verfügung hatte, in der sie hätte nachforschen können, und auf keine Aufzeichnungen über frühere Untersuchungen oder Lektüren zurückgreifen konnte. Alles war direkt aus der Feder geflossen. Und doch ist es voll von Verweisen auf Bücher im Britischen Museum oder in anderen großen Bibliotheken, und jede Quellenangabe ist korrekt. Was dieses Buch betrifft, handelt es sich also entweder um eine Frau, die in der Lage war, in ihrem Gedächtnis eine derart große Anzahl von Tatsachen, Daten, Zahlen, Titeln und Themen zu speichern, wie es nie zuvor ein Mensch vermochte, oder sie hatte tatsächlich, wie sie selbst versicherte, ‚Hilfe von jenen, die ungesehen und unbemerkt hinter ihr standen‘.“
Diese Aussage mag für Außenstehende zunächst schwer nachvollziehbar sein. Doch im Zeitalter der Quantenphysik, die erst durch metaphysisches Denken interpretierbar ist, müssen auch andere Bewusstseinsstufen und Daseinsbereiche einbezogen werden. Die Grenzen des empirisch Nachweisbaren haben sich enorm verschoben. Max Planck zum Beispiel betrachtete Bewusstsein als fundamental, was neben vielen anderen Forschern und Gelehrten auch Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Monadologie zum Ausdruck brachte. Und wer möchte sich angesichts der verheerenden Zustände in der Welt aufschwingen zu sagen, dass es über der menschlichen Bewusstseinsstufe keine weitere gäbe?
Isis Entschleiert brachte Bewegung in das Denken jener Zeit, das von einem sich zunehmend stärker entwickelnden Materialismus gekennzeichnet war. Blavatsky kam, um die Gedankenformen der Menschen zu zerbrechen. Ihr Wirken warf wieder neues Licht auf die von Geist und Intelligenz geleitete Evolution, der sie die Schöpfungslegenden gegenüberstellte. So treten sie nicht mehr als unüberbrückbare Gegensätze auf, sondern als zwei unterschiedliche Sichtweisen von Teilen der Alten Weisheit. Es ist Blavatskys Verdienst, zeitalteraltes Wissen im Bewusstsein der Menschen neu verankert zu haben. Mit der Theosophie brachte sie jene alte „Lehre der Hoffnung“ zurück, die unvergänglich die Zeiten überdauert.
Blavatsky schrieb in dem Bewusstsein, dass der fortschreitenden Wissenschaft für ihre verantwortungsvolle Aufgabe entscheidende Schlüssel fehlten. Sie gab zahlreiche Hinweise, und tatsächlich bestätigten sich ihre wissenschaftlichen Aussagen mit wachsender Erkenntnis bis in unsere Zeit. So ist das Werk auch für den heutigen Leser ein Fundament für die gründliche Aufarbeitung historischer Irrtümer und gravierender Fehlentwicklungen, die bis in die Gegenwart reichen und oft auch den Fortschritt hemmen.
Isis Entschleiert entschlüsselt und erklärt Allegorien, die aus zeitalteralten religiösen Aufzeichnungen bekannt sind, aber bislang zu einseitig interpretiert wurden. Die Bedeutung christlicher Symbolik verbindet sich mit der Ausdeutung anderer Weltreligionen zu einem für damalige und heutige Verhältnisse neuen Bild, das auf einen gemeinsamen Ursprung der Überlieferungen hinweist. Die Isis erklärt Meisterschlüssel, die gemäß der Autorin nicht einmal, sondern mindestens siebenmal umgedreht werden müssen, bevor sich sowohl die verborgenen als auch die eher sichtbaren Zusammenhänge in der Tiefe erschließen. Jede Facette hat ihre Bedeutung, ist ein Steinchen im Mosaik der uralten Weisheitsreligion.
Blavatsky war zeit ihres Lebens auf Reisen und auf den Kontinenten Europa, Asien, Afrika und Nordamerika praktisch zu Hause, was gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts für eine Frau unter normalen Umständen fast unmöglich war! Sie offenbart eine schier unglaubliche Fülle an Wissen, und während sich diese Fülle über die Seiten des Werkes ergießt, zeigt sich immer auch ein Stück von dem Menschen und Lehrer Blavatsky. Hinter ihrem treffsicheren Humor, der sie weder den Boden der Ernsthaftigkeit noch ihr Ziel jemals aus den Augen verlieren lässt, scheint das hindurch, was sie wirklich war: ein Diener der Menschheit, der sein eigenes Wohl hintanstellt und sich mit dem Herzen eines Löwen jedem noch so erbitterten Gegner entgegenstellt. Ihre ungeschminkte Offenheit schließlich muss jedem Leser Bewunderung abnötigen. Sie wusste, wofür sie eintrat und welche Kräfte hinter ihr standen.
„Eine Frau, bei deren Tode ein Telegrammwechsel zwischen den Kontinenten erfolgte, als sei ein Kaiser gestorben, muss ein außerordentlicher Mensch gewesen sein“, schrieb Judge. Und so war es auch, denn „niemand in der gegenwärtigen Generation“, schrieb die New Yorker Tribune 1891 anlässlich ihres „Heimganges“, wie sie den Tod nannte, „niemand hat mehr dazu beigetragen, dass die lange versiegelten Schatztruhen östlichen Denkens, östlicher Weisheit und Philosophie wieder geöffnet wurden. Niemand hat gewiss so viel zur Aufhellung jener tiefgründigen Weisheitsreligion getan, die vom ewig nachdenkenden Orient ausgearbeitet wurde, wie Blavatsky. Auf sie geht die Entdeckung jener alten literarischen Werke zurück, deren Reichweite und Tiefe die westliche Welt so erstaunt haben, die in dem engstirnigen Glauben großgezogen wurde, dass der Osten nur Unreifes und Kindliches im Bereich des spekulativen Denkens hervorgebracht hätte. Blavatskys eigenes Wissen über östliche Philosophie und Grenzwissenschaften war immens. Kein unvoreingenommener Mensch, der ihre Hauptwerke Isis Entschleiert und Die Geheimlehre gelesen hat, kann dies bezweifeln. Das Werk Blavatskys hat bereits Früchte getragen, und es ist seine offenbare Bestimmung, in der Zukunft noch spürbarere und heilsamere Wirkungen hervorzubringen.“
Mit den Standardwerken Isis Entschleiert und Die Geheimlehre hat Blavatsky ein historisches Erbe hinterlassen. Es ist zeitlos aktuell und wird auch künftigen Generationen ermöglichen, zunehmend tiefer in die kausalen Realitäten unseres Daseins vorzudringen.
Der Leser möge im Sinne wahrer Philosophie – der Liebe zur Weisheit – seinen Teil der Wahrheit in den Seiten dieses erstaunlichen Werkes finden.